DER FLUSS II. 2025

HUNDRICH / DER FLUSS II. 2025
Dokumentations- und Gedenkstätte ehemalige Stasi-Untersuchungshaftanstalt Rostock (DuG)

 

Wer einen Menschen rettet, rettet die Welt.

Doch was ist mit demjenigen, der ein Leben vernichtet, vergewaltigt, missbraucht, misshandelt, physisch oder psychisch terrorisiert? Zerstört er damit auch die Welt?

Am Anfang dieses Projekts stand die Frage nach dem demokratischen Wert der Kunst. Dann kamen Papier und Bleistift – und am Ende dieses Projekt.

 

DER FLUSS – Ein Ausstellungsprojekt in drei Kapiteln

Der demokratische Wert der Kunst

Kunst ist das Fundament einer offenen und freien Gesellschaft. In ihr liegt die Freiheit des Ausdrucks – die Freiheit, mutig Fragen zu stellen, vorgegebene Wahrheiten zu entlarven und das Leben in seiner Rohheit und Schönheit zu erfassen.

Despoten und Extremisten greifen immer zuerst die Kunst an: Sie verbieten, zerschlagen, verbrennen sie. Sie wissen genau, warum. Denn sie verachten die Freiheit des Individuums, das eigenständige, kritische Denken und selbstbewusste Handeln. Vielfalt und Andersartigkeit sind ihnen ein Dorn im Auge. Ihr Handeln folgt dem Wahn, dass allein ihre Version der Wahrheit zählt.

Sie zerstören, was Menschen – auch verschiedener Kulturen – miteinander verbindet, was Menschlichkeit schützt, und Gemeinschaft stärkt.

Kunst ist eine Möglichkeit, die Welt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu begreifen – mit all ihrer Brutalität und ihrem Potenzial. Diese Ausstellung ist mein künstlerischer Versuch, Zerstörung, Widerstand und Menschlichkeit sichtbar zu machen. Fragen zu stellen, Antworten zu suchen, Brücken zu schlagen, wo keine zu sehen sind.

Kapitel 1: DIE – Ein Mosaik der Zerstörung

Als ich die Bilder für dieses Kapitel schuf, fühlte ich mich wie ein Chronist der Gewalt. Jedes Bild zeigt Szenen, die für mich zu Symbolen der Zerstörung wurden: ein brennendes Haus, eine helfende Hand, die selbst zerstört wird, ein brennendes Bett, das den Verlust von Geborgenheit einfängt.

Diese Szenen wirken wie ein Mosaik – zusammengefügt aus Fragmenten von Gewalt und Schmerz, die dennoch eine größere Geschichte erzählen: von zerstörerischen Kräften, die aus verschiedenen Richtungen kommen, scheinbar unverbunden und doch mit einem gemeinsamen Ziel – der Zerstörung von Menschlichkeit und Demokratie.

Kapitel 2: Der Kreis – Ein Raum für Einheit und Reflexion

Dieses Kapitel bildet einen Gegenpol. Der Kreis ist ein Symbol des Unendlichen, ein Sinnbild für den Zyklus von Leben, Tod und Wiedergeburt.

Ein Kreis aus überdimensionierten Hemden, gestaltet aus Rettungsdecken, steht für die Einheit, die uns als Menschen verbinden kann – und zugleich für ihre Zerbrechlichkeit. Die Rettungsdecken sind universelle Symbole für Hilfe und Schutz, aber auch für die Verletzlichkeit des Lebens. Ihr goldener Glanz weckt Hoffnung durch Aufmerksamkeit und lenkt den Blick auf zentrale Fragen:

  • Wie wird menschliches Sein definiert?
  • Was hält uns als Menschen zusammen?
  • Was gibt dem Leben einen menschlichen Sinn?

Doch in den engen Räumen der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt wurde der Kreis eingesperrt. Die räumliche Enge ließ ihn mutieren, seine ursprüngliche Form wurde verzerrt. Wo einmal Würde und Menschlichkeit gedacht waren, blieb nur ein unförmiger Haufen. Die Ideale des Kreises konnten sich nicht entfalten – so wie die Menschlichkeit in diesen Mauern zertreten, zerstört, ideologisch erstickt wurde.

Kapitel 3: DER FLUSS – Ein Weg durch Schmerz und Hoffnung

Performance: Lydia Klammer / Musik: Theo Jörgensmann

Dieses Kapitel berührt mich am tiefsten, denn es entstand unter dem Eindruck eines Ortes, der mich unausweichlich mit der deutschen Vergangenheit konfrontierte. Ursprünglich war der Fluss eine Strömung aus Rettungsdecken – ein Sinnbild für den Kreislauf der Menschlichkeit, die von der Unmenschlichkeit dominiert wird.

Doch als ich die Dokumentations- und Gedenkstätte der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt Rostock betrat, verwandelte sich dieser Fluss in eine „Via Dolorosa“ – einen Leidensweg.

DER FLUSS wird zur Hommage an all die Menschen, die unter Systemen des Unrechts litten – gefoltert, gebrochen, ermordet. Er bleibt als stiller Zeuge der Vergangenheit und Gegenwart bestehen. Doch für mich ist er zugleich ein Symbol der Hoffnung: Menschlichkeit kann zerstört werden, aber sie wird immer wieder neu entstehen.

Warum diese Ausstellung so persönlich ist

Ich kann über diese Werke nicht sprechen, ohne meine eigene Betroffenheit zu teilen. Viele der Bilder und Szenen sind aus persönlichem Erleben geboren. Sie sind geprägt von Orten, die ich besucht habe, von Geschichten, die mich berührten, von Momenten, die sich unauslöschlich in mein Bewusstsein gegraben haben.

Oft war ich während der Arbeit an dieser Ausstellung überwältigt von vielschichtigen Erinnerungen und erschütternden Eindrücken. Ich dachte an all die Menschen, die in der Geschichte – und auch heute – unterdrückt werden. An jene, denen ihre Freiheit genommen wird. An diejenigen, die keine Stimme haben.

Diese Ausstellung ist meine Antwort auf die Frage, wie wir Zerstörung und Spaltung begegnen können. In einer Zeit, in der autoritäre Strukturen wieder lauter werden und Menschlichkeit immer wieder infrage gestellt wird, will ich nicht schweigen.

Kunst ist für mich auch Widerstand.
Sie gibt uns eine Stimme, wenn Worte – angesichts zunehmender Brutalität – versagen.

DER FLUSS erinnert uns daran, dass Menschlichkeit nicht selbstverständlich ist.
Doch er zeigt auch, dass sie immer wieder neu entstehen kann – durch unser Handeln, unsere Kunst, unseren Widerstand.

Die Frage ist nicht, ob wir etwas tun können, sondern ob wir es tun werden.

DER FLUSS II

  1. Die große Frage: Warum tut der Mensch dem Menschen so viel Unmenschlichkeit an?

Mit dieser einen Frage löst sich das Projekt „DER FLUSS“ aus dem Persönlichen, aus dem Ort, an dem es begann. Es wächst hinaus – zu einer universellen, zeitlosen Reflexion über die Menschheitsgeschichte, über das, was bleibt, was sich wiederholt, was niemals vergeht.

Gewalt, Krieg, Unterdrückung, Zerstörung, Flucht – warum sind sie so tief im Wesen der Menschheit verankert? Warum ziehen sie sich wie ein Strom durch die Zeit, von den ersten Kriegen der Antike bis in unser Heute?

Ein Fluss – nie versiegend, nie versöhnlich. Und doch – immer wieder durchbrochen von Momenten der Hoffnung.

  1. „Das Material Mensch“ – eine brutale Realität

Menschen wurden über Jahrhunderte hinweg zu Material gemacht – formbar, manipulierbar, vernichtbar, verwertbar. Ein Körper, ein Schatten, eine Zahl. Austauschbar bis bedeutungslos.

Doch der Mensch ist kein Material.

„Der Fluss“ greift diesen Gedanken auf – nicht als starres Bild, nicht als unbewegliche Skulptur, sondern als lebendiges, atmendes Kunstwerk. Ein Körper in Bewegung, ein Symbol für die Endlosigkeit der Gewalt – und für die Hoffnung, dass dieser Fluss eines Tages versiegt.

Die Performance macht das „Material Mensch“ sichtbar:

  • als Rettungsdecke – leicht, zerbrechlich, schützend und doch ungeschützt,
  • als Körper – ein Symbol der Verletzlichkeit und der Würde,
  • als Bewegung – ein ewiger Kreislauf von Verzweiflung und Wiederauferstehung.

Der Fluss aus Rettungsdecken wird zur Spur eines Urtraumas. Ein Echo derer, die nie gehört wurden. Ein Zeichen für das, was sich wiederholt.
„Nie wieder“ – eine Mahnung, ein Versprechen. Doch was bedeutet Nie wieder, wenn das Gestern nicht vergeht?

Nie wieder ist Jetzt.
Die Aufarbeitung beginnt nicht morgen. Sie beginnt heute.

DER FLUSS als zeitloses Statement

Dieses Projekt ist keine Chronik der Vergangenheit – es ist eine Stimme für die Gegenwart.

Es erzählt von denen, die vergessen wurden. Denen, deren Namen verloren gingen.
Es erzählt von der Menschlichkeit, die so oft unterging – und doch immer wieder auftaucht, gegen alle Widerstände.

Über Jahrhunderte wurde Menschen ihre Würde geraubt, ihre Identität ausgelöscht.
Doch ein Mensch ist mehr als das, was ihm genommen wurde.
Ein Mensch ist Erinnerung. Ein Mensch ist Gegenwart. Ein Mensch ist Zukunft.

Mit diesem Projekt will ich ihnen zurückgeben, was ihnen entrissen wurde.
Indem ich an sie erinnere, integriere ich sie in den „Fluss“ der Menschlichkeit – selbst dort, wo Unmenschlichkeit über Zeit und Raum herrschte.

DER FLUSS als Denkmal – Raum für Erinnerung, Gegenwart und Zukunft

Dieses Projekt ist kein Ruf nach Rache. Es ist kein Ritual, das ein Datum feiert und dann verstummt.
DER FLUSS ist eine menschliche Antwort auf die niemals endende Unmenschlichkeit.

Im zweiten Teil sehe ich den Fluss als Monument, als bleibende Stimme im öffentlichen Raum:

  • an einem zentralen Ort – dort, wo das Leben pulsiert,
  • oder eingebettet in eine Landschaft, einen Park – ein stiller Ort des Erinnerns.

Ein Denkmal aus Licht und Schatten.
Ein Raum für Stille, für Fragen, für Begegnung.
Eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

 

Wann hört diese Unmenschlichkeit auf?

 

Wer einen Menschen rettet, wird erzählt – rettet die Welt.

Doch was ist mit demjenigen, der ein Leben vernichtet, vergewaltigt, missbraucht, misshandelt, physisch oder psychisch terrorisiert?
Zerstört er damit auch die Welt?

„Der Fluss“ – ist meine Antwort.

Ein Zeichen aus Bronze, ein Mahnmal gegen das Vergessen.
Für Zusammenarbeit. Für Menschlichkeit.
Für das, was uns verbindet.

Ein Denkmal, das nicht nur mahnt – sondern verpflichtet.

 

EPILOG

DER FLUSS ist mehr als ein politisches oder gesellschaftliches Werk – es ist ein zeitloses, kunsthistorisch relevantes Statement.
Es erzählt die Geschichte der Menschheit, vom Anbeginn der Zeit bis in die Gegenwart.

Wenn ich vom „Menschen“ spreche, beziehe ich mich auf alle Menschen, die jemals gelebt haben oder noch leben werden – unabhängig von politischen, nationalen, kulturellen, religiösen oder familiären Zugehörigkeiten. Meine künstlerische Sichtweise konzentriert sich auf die universellen Aspekte des Menschseins, die allen Menschen gemeinsam sind – egal welcher Herkunft, welchen Glaubens oder welchen sozialen Hintergrunds.

Mein Ansatz betont die Essenz des menschlichen Seins und fokussiert sich auf die grundlegenden Emotionen, Erfahrungen und Herausforderungen, die uns alle verbinden.

Das Monument DER FLUSS ist den Menschen gewidmet:

  • Es steht in der Tradition großer Mahnmale – von Maya Lins Vietnam Veterans Memorial bis zum Holocaust-Mahnmal in Berlin.
  • Es verbindet Performance, Skulptur und soziale Intervention – eine Praxis, die Künstler wie Joseph Beuys, Marina Abramović oder Santiago Sierra geprägt haben.
  • Es nutzt ein einfaches, aber hoch aufgeladenes Material (die Rettungsdecken), ähnlich wie Ai Weiwei oder die Arte Povera-Bewegung.
  • Es hat das Potenzial, nicht nur temporär als Performance zu existieren, sondern auch als permanentes Denkmal (z. B. in Bronze oder Messing an einem öffentlichen Ort) – vergleichbar mit den Werken von Richard Serra oder Jenny Holzer.

Bei diesem Monument DER FLUSS geht es nicht nur um Erinnerung und Anklage, sondern auch um eine menschliche Antwort auf die Unmenschlichkeit. Dieses Monument ist den Menschen gewidmet – und wird so zu einem Monument für die Demokratie.

Des Menschen Sinn für Gerechtigkeit macht Demokratie möglich.
Seine Neigung zur Ungerechtigkeit macht Demokratie notwendig.

— Reinhold Niebuhr

Die Demokratie ist unser wertvollstes Gut. Sie zu erhalten, ist Aufgabe und Verpflichtung zugleich. Das bedeutet ein ständiges, entschiedenes, selbstbewusstes Auseinandersetzen, Anstrengung und Mühen um Kompromisse und dauerhaften Konsens. Dies sind Grundbedingungen der einzigen politischen Ordnung, die Freiheit garantieren kann.
— Wolfgang Thierse, Präsident des Deutschen Bundestages

Pampin, im April 2025
Herbert W. H. Hundrich